Marcel Miquet über Anfang und Ende des SS-Arbeitslagers Landsberg – Die traurige Chronik des Arbeitslagers Dachau 3K

aufbereitet von Manfred Deiler.
Erstveröffentlichung in: Landsberg im 20. Jahrhundert – Themenhefte zur Landsberger Zeitgeschichte – Heft 5: Das SS-Arbeitslager Landsberg 1944/45: Französische Widerstandskämpfer im deutschen KZ – ISBN: 3-9803775-4-7-

Marcel Miquet hatte im SS-Arbeitslager Landsberg die Häftlingsnummer 72.787. Nach dem Krieg ging der deportierte Widerstandskämpfer und Offizier der Ehrenlegion nach Paris und wurde „Ingénieur divisionnaire honoraire des travaux publics de l’État“ und zum Vizepräsidenten der „Amicale des Anciens de Dachau“.

Landsberg am Lech, Dachau 3K war die offizielle Bezeichnung des Kommandos in das ich vom Konzentrationslager Dachau am Freitagmorgen, des 14. Juli 1944 verlegt wurde. Ich war einer der 350 Häftlinge, die streng bewacht auf Lastwagen hierhergebracht wurden. Ich war sehr enttäuscht. Anstatt, wie ich es gehofft hatte, in ein Waldarbeiterkommando zu kommen, fand ich mich auf einem großen, weiträumigen Flugplatz wieder, dessen Gebäude erst vor wenigen Tagen bombardiert und sehr stark beschädigt worden waren. Als ich jedoch später sah, welch schreckliche Zustände in den nur wenige Kilometer entfernten jüdischen Lagern von Kaufering herrschten, war ich froh, dass ich hierher geschickt worden war.

Wir waren in diesem Kommando, das kurz zuvor auf die Bitte der Firma Dornier errichtet worden war, die ersten KZ-Häftlinge. Unser Kommando hatte die Aufgabe eine neue Startbahn zu bauen, einen Schießstand zu errichten und die durch amerikanische und britische Bomberverbände zerstörten Flugzeughallen und Einrichtungen wieder Instand zusetzen.

Zu- und Abgangsbuch des SS-Arbeitslagers Landsberg

Unser Transport umfasste 331 Franzosen, sieben Spanier, drei Deutsche, drei Polen, zwei Niederländer, zwei Schweizer, einen Russen und einen Italiener. Diese 350 KZ-Häftlinge waren wenige Tage zuvor in den Quarantäneblöcken 17 und 19 des Konzentrationslagers Dachau selektiert worden. In diesen Blöcken 17 und 19 hausten die 2000 Deportierten, die am 18. Juni 1944 von Compiègne nach Dachau verschleppt worden waren. 160 Franzosen und Spanier kamen vorwiegend aus dem Zentralgefängnis von Eysses. Fast alle sind Widerstandskämpfer. Sie sind Kommunisten oder Anhänger de Gaulles, die durch die Gerichtshöfe der Vichy-Regierung abgeurteilt wurden und die nach dem Häftlingsaufstand vom Februar 1944 im Zentralgefängnis von Eysses zur Strafe hierher deportiert wurden. Die andere Hälfte der KZ-Häftlinge kommt aus allen Gegenden Frankeichs und besteht zum größten Teil aus Widerstandskämpfern, die schon die Schrecken der Haft und die Verhörmethoden der Gestapo kennenlernen mussten. Es befinden sich aber auch Geiseln, unschuldige Opfer von Razzien, Menschen die öffentlich ihre Meinung gesagt hatten und sogar einige, die als Kriminelle verurteilt worden waren, unter den Häftlingen. Wir alle mussten zehn Monate in dieser ungewöhnlichen Umgebung leben und hatten dabei einen besonders harten Winter mit Temperaturen von 20 bis 25 Grad unter dem Gefrierpunkt zu überstehen.

Die „offizielle Absenderadresse“ des SS-Arbeitslagers Landsberg

Die drei deutschen KZ-Häftlinge hatten die Funktionen im Lager zu übernehmen. Der erste hieß Kurzweil, trug die Häftlingsnummer 47.741 und wurde der Lagerälteste. Wir bedauerten es nicht, als er am 22. September wieder nach Dachau zurückgeschickt wurde. Er wurde durch den staatenlosen Welzel ersetzt. Dessen Häftlingsnummer 253 zeigte uns, dass er einer der am längsten inhaftierten KZ-Häftlinge war. Die elf Jahre im Konzentrationslager haben ihn unseren Kameraden sehr nahe gebracht und er war allen gegenüber sehr hilfsbereit.
Der zweite Deutsche war 1897 geboren und hieß Kurt Bankwitz. Er trug die KZ-Nummer 20.377 und war unser Lagerschreiber. Wegen seiner Aktivitäten in der kommunistischen Partei wurde seine berufliche Laufbahn als Volksschullehrer im Jahre 1933 unterbrochen. Er hatte ebenfalls elf Jahre Konzentrationslager hinter sich und seine großen Erfahrungen waren sehr hilfreich für uns. Als er am 29. November 1944 nach Dachau zurückverlegt wurde, bedauerten wir dies alle sehr. Der Österreicher, Edwin Tang, mit der KZ-Nummer 38.068 hatte die zweifelhafte Aufgabe sein Nachfolger zu werden und musste unter der Knute des schrecklichsten unserer Lagerführer, Willi Wagner, seine Arbeit tun.
Unser dritter deutscher Leidensgenosse war Alois Vater. Er war im Jahre 1893 geboren, ebenfalls ein erfahrener Konzentrationslagerhäftling und trug die Nummer 2.849. Er war für die Verpflegung und unsere Bekleidung zuständig und erfüllte seine Aufgabe mit Zurückhaltung und Gutmütigkeit.
Marian Novak, ein Pole mit der Häftlingsnummer 12.177, war unser Küchenchef. Vier oder fünf französische Kameraden halfen ihm bei seiner Arbeit. Sein junger Landsmann, Josef Cap, der die Häftlingsnummer 13.630 trug, war für den Stubendienst verantwortlich. Josef Cap schikanierte uns wo er nur konnte. Indem er ständig und überall herumschnüffelte, versuchte er unsere Vorgesetzten auf sich aufmerksam zu machen und sich bei ihnen einzuschmeicheln.
Am 1. August kommen der holländische Arzt, Dr. Johan Koenraad, als Krankenpfleger, zwei Staatenlose, König und Welzel und Erich Schwieg, Geburtsjahrgang 1897, zu uns. KZ-Häftling 1.732, Erich Schwieg, hatte unter den deutschen Häftlingen die längste Zeit in Konzentrationslagern verbracht. Hier hat er im zwölften Lagerjahr seinen Verstand verloren und man brachte ihn am 29. Dezember 1944 nach Dachau zurück.

An der Spitze des SS-Arbeitslagers herrschte mit uneingeschränkter Machtvollkommenheit Kommandoführer Alois Wipplinger über uns. Als SS-Unterscharführer war er Vorgesetzter der Soldaten, die uns zu bewachen und zur Arbeitsstelle zu begleiteten hatten. Er verließ uns einige Monate später, um die Kommandantur in einem der 11 Konzentrationslager von Kaufering zu übernehmen. Derjenige, der an seine Stelle trat, war nur kurze Zeit hier und wurde wegen einer Verfehlung, die seine vorgesetzte SS-Dienststelle festgestellt hatte aus disziplinären Gründen drei Wochen später ersetzt.

Unterschrift im Lagerbuch: Lagerführer Wipplinger

Der dritte Lagerführer, Willi Wagner, nahm seinen Posten im Verlaufe des Monats November ein. Er war SS-Oberscharführer und hat, so sagt man, in Dachau Häftlinge so schwer mißhandelt, dass sie starben. Als Strafe dafür wurde er nach Landsberg versetzt und hier führte er seine Terrorherrschaft fort. Je nach Laune unseres Kommandoführers schwanken unsere Lebensbedingungen und die Hoffnung zu überleben. Später haben wir mit Genugtuung erfahren, dass Willi Wagner zum Tode verurteilt und in Landsberg am 29. April 1946 gehängt wurde.

SS-Oberscharführer Willi Wagner

Im Laufe der Zeit werden wir im Lager immer weniger. Zunächst durch die Überstellung unserer Kranken nach Dachau. Nur wenige von ihnen kehren zu uns zurück. Dann durch zwei Fluchtversuche. Den ersten machte der Franzose Guy Taburet, der am 17. Juli, als wir das erste Aal zur Baustelle gingen, die Flucht wagte. Als Ende Oktober 1944 vierzehn Bäcker und Metzger nach Dachau zurückbeordert werden, sind wir nur noch 320 KZ-Häftlinge in unserem Kommando. Diese vierzehn Fachleute werden anderen Kommandos wie zum Beispiel Auschwitz, Mauthausen oder Großrosen zugewiesen, wo die meisten ermordet wurden. Der Aderlass setzte sich durch die Überstellung unserer Kranken nach Dachau ständig fort. Dass wir im KZ-Kommando Landsberg nur einen Sterbefall hatten, liegt daran, daß alle Kranken nach Dachau gebracht wurden. Am 11. Dezember sind wir noch 300 KZ-Häftlinge. Aber am 12. Dezember werden erneut 50 Deportierte in das Konzentrationslager Dachau zurückbeordert.

Am 8. April 1945 kommen 274 Überlebende eines schrecklichen und mörderischen Transports, die aus Bergen-Belsen und anderen Lagern evakuiert worden waren, im KZ-Kommando Landsberg an und bringen Bewegung in unser Lager. Unter ihnen befinden sich 101 Polen, 50 Russen, 29 Ungarn, 300 Letten, 25 Slowaken, neun Deutsche, fünf Tschechen und 14 Franzosen. Zum ersten Mal sehen wir hier Juden, die einen Stern zu tragen haben. Es sind ungefähr fünfzig und sie sind die Sündenböcke und Prügelknaben der Kapos, die sie begleiten. Unsere Lagerstärke wurde durch diese ausgehungerten Menschen, die wie Skelette aussahen und Läuse und Flöhe hatten, schlagartig verdoppelt und unser Lagerführer stand vor unlösbaren Problemen. Dieser entledigt sich nach einer Selektion am nächsten Morgen von den achtzig Schwächsten dieses Transportes und später, am 19. April 1945, überstellt er fünfzehn weitere Kranke in das KZ-Außenkommando Kaufering IV. Das Zusammenleben ist sehr schwierig. Die Diebstähle häufen sich und wir bekommen die Brutalität der neuen Kapos tagtäglich zu spüren. Die Appelle werden länger und länger und die Schläge verdoppeln sich. Wir bewahren dennoch unsere Hoffnung, denn wir bemerken, dass die militärische Lage sich sehr schnell verändert. Kampfflugzeuge sind am Himmel zu sehen. Immer öfter müssen wir draußen in der freien Landschaft Schutz suchen und mehrere hundert Meter vom Lager entfernt das Ende des Fliegeralarms abwarten. Durch einen unerwarteten Luftangriff werden ein halbes Dutzend unserer Kameraden verwundet und sofort nach Kaufering geschickt. So vergehen zwei Wochen unter den schrecklichsten Bedingungen.

Plötzlich, am 23. April 1945, gibt der Lagerführer unseren Abmarsch für den nächsten Morgen bekannt. Wir sollen dem Roten Kreuz übergeben werden. Eine fast fieberhafte Erregung macht sich unter uns breit und wir sammeln unsere kleinen, dürftigen, persönlichen Schätze. Notizen, die wir auf irgendein Packpapier gekritzelt hatten, Löffel die das Wappen des Fliegerhorstes trugen und die Überreste des letzten Päckchens des Roten Kreuzes, das wir unter schwierigen Umständen bis jetzt aufgehoben haben. Dies alles wird uns einige Nächte später gestohlen werden.
Am 24. April verlassen wir nach dem Mittagessen das Lager. Viele von uns verweigern das Essen, weil sie fürchten, dass es vergiftet worden sei. Willi Wagner, den wir später nicht mehr zu Gesicht bekommen, schreit übertrieben und primitiv herum, als er unseren Abmarsch überwacht und befiehlt: „In Fünferreihen antreten!“

Wir durchqueren das herrliche Städtchen Landsberg, das sich bereits im Belagerungszustand befindet, überqueren den Lech und erreichen nach einem zweistündigen Marsch eines der jüdischen Konzentrationslager. Die Tragödie, die sich an diesen Orten abspielte, wo in wenigen Monaten 15.000 KZ-Häftlinge ermordet wurden, wird uns hier erst richtig bewußt. Glücklicherweise ist unser Aufenthalt dort nur sehr kurz. Nach einer angstvollen Nacht müssen wir dann am nächsten Morgen auf dem Appellplatz antreten. Wir wissen nicht, wie lange wir hier im Ungewissen stehen müssen und befürchten das Schlimmste. Dann, am Ende des Abends, läßt man uns in Reihen antreten. Die Menschen formieren sich zu einer unüberschaubaren Kolonne und beginnen bei strömendem Regen den Marsch, der zwei Tage und zwei Nächte dauern wird. Immer wieder sind Schüsse zu hören, wenn diejenigen, die nicht mitmarschieren können und das Marschtempo verzögern, erschossen werden. Nur die alten und kranken KZ-Häftlinge, die nicht mehr transportfähig sind, bleiben zurück. Später erzählt man uns, dass sie durch Flammenwerfer verbrannt worden seien. War das das Schicksal, dem wir gerade noch entgangen waren?
Wir finden die abscheulichsten Lebensbedingungen vor, als wir am 25. April in ein KZ-Außenkommando von Kaufering gebracht werden. Die Krankenreviere sind überlastet und die Toten stapeln sich zwischen den Baracken. Aber die Stunde der Befreiung ist sehr nah.

Marcel Miquet: Zeichnung von einem Kameraden 6. Januar 1945

Nach zwei Tagen und zwei Nächten erreichen wir das Lager Allach. Am 30. April befreit eine amerikanische Einheit das Konzentrationslager Allach. Die SS ist geflohen oder wurde erschossen. Aus Angst, dass sich der Typhus weiter verbreitet, müssen wir weiter in diesem Lager eingesperrt bleiben. Die meisten von uns können es erst Ende Mai verlassen. Ich selbst erreichte Paris erst am 1. Juni 1945 und war in der glücklichen Lage, dort meine gesamte Familie lebend vorzufinden.

50 Jahre danach frage ich mich immer wieder und immer noch, wofür ich alle diese Opfer gebracht habe. Gab mir meine leidenschaftliche Vaterlandsliebe das Recht, die Zukunft meiner Frau und die meiner beiden Söhne, von denen einer sechs Jahre und der andere zwei Monate alt war, als ich am 6. Mai 1944 von der Gestapo der Vichy-Regierung verhaftet worden war, so in Gefahr zu bringen und ihr Leben aufs Spiel zu setzten?

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